Ich stehe inmitten der Unwirklichkeit des Store Mosse Nationalparks in Schweden. Schnell spüre ich: Auch hier im Moor ist es die Ruhe, die ich im Draußen am allermeisten genieße. Diese Ruhe, die pure Landschaft ausstrahlt und die sich auf mich überträgt. Eine Ruhe, die mich intensiv wahrnehmen lässt und gleichzeitig Neugier weckt. Auf den nächsten Schritt, den nächsten Zeltplatz, das Licht am nächsten Morgen.
Als ich losgehe, ist es bereits Abend. Zwei Wandertage und zwei Draußennächte liegen vor mir. Das sind ziemlich genau 48 Stunden, die mir einmal mehr zeigen werden, dass ein solches Kurz-mal-Raus für mich genau das Richtige ist, um mit geringem Aufwand den Kopf frei und neue Energie in den Körper zu bekommen. Hier draußen, wo Licht und Wetter den Rahmen meiner Tagesgestaltung bestimmen, und wo mein Fokus ganz auf der mich umgebenden Natur liegt sowie darauf, einfach so zu gehen, wie es sich im Moment richtig anfühlt.
Nur keine Eile
Im Store Mosse Nationalpark im südschwedischen Småland braucht man keine Eile zu haben. Seit 8.000 Jahren wächst die Torfschicht des Hochmoores vor sich hin. Das Wegenetz ermöglicht alles von kurzen Spaziergängen bis zu mehrtägigen Touren. Ausgewiesene Zeltplätze strukturieren die Etappenplanung. Perfekt, um einfach loszugehen!
Weil ich zentrale Zugänge zu Naturgebieten und mit ihnen einhergehende Großparkplätze nicht mag, starte ich ab Kittlakull. Das liegt perfekt zwischen der östlichen und der westlichen Seite des Nationalparks und schön im Wald. Die Autokennzeichen um mich herum lassen erahnen, dass der Sommertourismus bereits in vollem Gange ist. Meine Befürchtung, es könnte auf den Zeltplätzen voll werden, wird sich allerdings nicht bewahrheiten. Ich ahne schnell und werde das am nächsten Tag bestätigt bekommen, dass die meisten Besucher doch nur eine kleinere Runde gehen und zumeist am Infozentrum Naturum starten.
Für mich heißt das: Mein Wunsch nach Ruhe wird erfüllt. Im warmen Abendlicht gehe ich unter Kiefern hindurch und pflücke meine erste reife Blaubeere des Jahres. Ich erspähe Wollgras am Wegesrand und balanciere mein Gepäck schon bald über den ersten Holzbohlenabschnitt. Ich muss ein wenig aufpassen: Einzelne Bretter flappen hoch. Wie gut, dass man offenbar gerade dabei ist, die Wege auszubessern! Die Holzbrettstöße am Wegesrand lassen dies erkennen und dienen mir als willkommener Pausenplatz. Ich habe Sonne im Gesicht und werde von einem doch kühlen Abendwind umweht, als ich in aller Langsamkeit meine Himbeerbulle genieße und den Blick auf die weite Fläche um mich herum, aus der vereinzelte knorrige Kiefer ragen, welche kaum größer sind als ich.
Urige Alternativen zum Zelten
Mein Zelt schlage ich nach 6,5 Kilometern am ersten von zwei ausgewiesenen Plätzen vor Svänö auf. Ich richte mich ein, koche und gehe nochmal los, zum nächsten Aussichtsturm am Kävsjön. Der See wurde 1965 zum Naturreservat erklärt, ist attraktiv für Vogelbeobachtung und für mich, um Sonnenuntergangsexperimente mit Kamera und Handy zu machen. Das Licht ist intensiv, die Herausforderung also groß. Während ich froh bin, meine Daunenjacke eingepackt zu haben: 14 Grad zeigt das Thermometer um kurz nach halb zehn an. Gefühlt sollen es zwölf sein. Der Wind ist eisig und meine Kamerafinger frösteln. Zeit, mich in den Schlafsack zu kuscheln!
Zum Morgenkonzert spielt das große Vogelorchester auf. Ich werde langsam wach, lausche und krabble erst gegen halb acht aus meinem Zelt. Am Brunnen von Södra Svänö fülle ich meine Wasserflaschen auf. Der Hof ist einer von zweien, die zwischen 1847 und 1907 auf dem heutigen Gebiet des Nationalparks erbaut wurden. Lövö und Södra Svänö fungieren inzwischen als Hostels; man kann einzelne Betten oder die ganzen Häuser buchen. Beide sind in den letzten Jahren renoviert worden, haben aber ihren alten Charme behalten: Das Wasser kommt aus dem Brunnen und gekocht wird auf dem historischen Holzherd.
Was ich toll finde: Neben beiden Haupthäusern stehen kleinere Gebäude, die Wanderern als immer offene Rastplätze dienen. Hier kann man sich vor Regen schützen oder sich einen Moment aufwärmen.
Mein eigener Laufsteg
Aufwärmen ist heute nicht nötig. Der Himmel ist unverschämt blau. Immer wieder ziehen kleine Wolkenbänder durch. Die Sonne gibt ununterbrochen alles. So wie ich, die ich kurz hinter Svänö eine Akrobatikeinheit auf den Holzbohlen zum besten gebe: Ich baue das Stativ auf, bemühe den Selbstauslöser der Kamera und turne mit meinem schweren Rucksack herum. Ich lache über mich selbst, denn elegant sieht das gewiss nicht aus. Vor allem das Aufstehen ist eine behäbige Angelegenheit. Welch ein Glück, dass außer mir keiner unterwegs zu sein scheint und ich den Spång, wie die Bohlenwege auf Schwedisch heißen, für mich habe! Mein eigener Laufsteg, sozusagen. Die Wollgrasmannschaften links und rechts des Weges nicken mir wohlwollend zu. So jedenfalls möchte ich es in diesem Augenblick wahrnehmen.
Auf den Spång folgt ein Abschnitt mit fein sandigem Waldboden. Vormittagslicht blinzelt zwischen gerade gewachsenen Kiefernstämmen hindurch. Unter ihnen bilden Moose Minilandschaften. Bis elf Uhr habe ich gerade einmal drei Menschen und einen Hund getroffen. Da bin ich gegen Mittag bereit, mich dem Trubel auszusetzen, den ich um den erwähnten Hauptparkplatz herum vermute. Zügig schreite ich an Wohnmobilen mit vornehmlich deutschen Nummerntafeln vorbei und folge dem grün-gelben Schild mit einem Kaffeetassenvogel drauf.
Luxuswaffel mit Ausblick
Das Schild führt mich zum nächsten Vogelbeobachtungsturm und zu Sebastian. Zusammen mit seiner Liebsten Lena betreibt er das minikleine Waffelcafé im Turm. Ich schlage zu, als wäre ich schon zwei Wochen und nicht erst den zweiten Tag unterwegs, und bin so im Moment, dass ich fast vergesse, das Kunstwerk aus Waffel, Erdbeeren, Bananen und selbst gemachtem Vanilleeis zu fotografieren.
Vor mir malt der Wind Wellen ins grüne Gras und pustet Wollgrasflusen in die Luft. Sebastian fragt: „Hast Du eben die Ricke mit ihrem Kitz gesehen?” Der Blick des Forstwissenschaftlers gilt auch dann der Natur, wenn er serviert. Wir kommen ins Gespräch. Ich schmunzle, als er ganz unvermittelt sagt: „Das ist doch irre, wenn man darüber nachdenkt, auf was man hier im Moor eigentlich geht!” Was er meint, ist diese bis zu sieben Meter dicke Substanz aus unvollständig zersetztem Pflanzenmaterial. Torf. Ich schmunzle, weil ich diesen Gedanken erst vor wenigen Wochen ziemlich genau so selbst im Kopf hatte, als ich weit im Süden, im Nördlichen Schwarzwald, auf Hochmoorgrund stand.
Ich liebe Moore und ich schmunzle weiter, als ich wenig später im westlichen Teil des Store Mosse Nationalparks in der absoluten Unwirklichkeit dieser Landschaftsform angekommen bin. Die zweibrettrigen Bohlenwege scheinen ins Unendliche zu führen. Im Moosdickicht am Boden fahren kleine Armaden an Sonnentau ihre dunkelroten Krallen aus. Der Bewuchs um mich herum wird immer niedriger. Ich kann mich kaum sattsehen an dieser Kulisse, denke über die Entwicklung dieses Lebensraumes nach, der gleichzeitig so reich und so reduziert daherkommt. Dabei erinnere ich einen Satz, den ich vor Jahren auf einer Wanderung hörte. Da sagte mir jemand, er fände Moore schlichtweg langweilig. Genau deshalb schmunzle ich. Denn für mich sind Moore alles andere als langweilig. In ihrer fortdauernden Entstehung und in ihrer Wirkung. Die ich nun voll und ganz genießen darf. Ohne Kommentare, ohne Eile und mit genügend Zeit für Fotostopps.
Morgenglück
Es ist 3.39 Uhr, als am nächsten Morgen der Wecker klingelt. Ich schnappe meine Kamera, husche trotz der Frühe mit erstaunlich viel Elan aus dem Zelt und erlebe Momente, die sich gewiss für immer ein Plätzchen in meinem Gedächtnis sichern. Ein feiner Dunstschleier liegt über der moorigen Unwirklichkeit. Die Farben am Himmel kämpfen einen stillen Kampf zwischen kühler Nacht und neuem Tag. Das Licht am Horizont wird wärmer. Die Sonne bahnt sich ihren Weg durch ein paar Wolken. Spinnennetze werden angestrahlt und haben ihren großen Auftritt vor meiner Linse. Zarte Fäden umspannen derweil die morgentauschwangeren Nadeln der niedrigen Moorkiefern.
Um 4.39 Uhr ziehe ich mich zurück. Drei Stunden später brühe ich meinen Morgenkaffee auf. Glücklich über so viel kopffrei. Glücklich über all diese Momente der Ruhe.
Seerosen und Blaubeerfinger
Ich gehe Richtung Lövö, schlenkere über den gelben Weg mit der Beschilderung „Lövö runt”. Immer wieder wandern die Finger hinunter in die üppigen Blaubeerbüsche neben mir. Sie sind noch nicht besonders süß, die Beeren. Aber reif genug für weiteres Draußenglücksgefühl und sommerliche Blaubeerfinger. Überhaupt dominiert Blau heute meine Wahrnehmung. Neben wahnsinnig viel Grün. Ich gehe durch Wälder und südwärts Richtung Andersberg, durch so offene Landschaft, dass die Sonne an jenem Tag Ende Juni an der Grenze zur Unerträglichkeit brennt. Der Himmel flirrt. In den Sumpfgebieten von Blådöpet ist der Sommer deutlich besser zu ertragen. Seerosen zieren den Zulauf von Osten her. Seerosenblätter liegen wie kleine Inseln dicht an dicht in den dunkelwässrigen Tümpeln im Wald.
Ich kann mich kaum losreißen, so schön finde ich diese Vegetationswechsel. Moltebeeren zwischen Birken am Wegesrand bekommen meine Aufmerksamkeit und kitzeln den Wunsch wach, spätestens zu ihrer Reifezeit erneut den Rucksack zu packen.
Zwei Draußentage liegen hinter mir, als ich schließlich bei Kittlakull die Brücke über die Eisenbahnstrecke überquere, die Store Mosse von Nord nach Süd durchschneidet, und zum Auto zurückkehre. Zwei Tage in dieser unwirklichen Landschaft, die ich so gut wie für mich alleine hatte. Zwei Tage in echt nordischer Landschaft mit Alleinstellungsmerkmal: Der Store Mosse Nationalpark in Småland ist Schwedens größtes zusammenhängendes Moorgebiet südlich von Lappland.
Info & Tipps:
Über den Store Mosse Nationalpark:
Der Store Mosse Nationalpark ist das größte Moorgebiet in Südschweden. Es ist 7.740 Hektar groß und wurde 1982 zum Nationalpark erklärt. Es gibt neun ausgeschilderte Wanderwege, die sich prima zu einer Mehrtagestour kombinieren lassen. Insgesamt gibt es 40 Kilometer Wanderwege.
Ob Adler oder Kranich – Store Mosse ist ein beliebter Ort für Vogelbeobachtung, vor allem rund um den Kävsjön am Besucherzentrum Naturum. Hier findet man spannende Infos zum Nationalpark, startet zu geführten Touren und kann sich mit einer Übersichtskarte eindecken, die auch Infos zu Zeltplätzen, Feuerstellen und Frischwasser enthält.
Anreise:
Der Store Mosse Nationalpark liegt im südschwedischen Småland. Von Malmö aus braucht man mit dem Auto gute zweieinhalb Stunden dorthin. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln fährt man am besten mit dem Zug bis Värnamo und von dort aus weiter mit dem Bus Nr. 242 Richtung Gnosjö. Die Haltestelle ist Store Mosse fågeltornet. Bis dorthin dauert es mit den schnellsten Verbindungen rund drei Stunden ab Malmö Central.
Übernachten:
Da das Moorgebiet ein Nationalpark ist, gilt das schwedische Jedermannsrecht nur eingeschränkt. Das ist vor allem wichtig, zu wissen, wenn Du zelten möchtest: Es gibt sieben ausgewiesene Zeltplätze. Nur hier ist es erlaubt, sein Zelt aufzuschlagen.
Die Abstände zwischen den Zeltplätzen sind entspannte Etappen, sodass Du auch recht spontan entscheiden kannst, bis wohin Du gehst.
(!) Zwei der Plätze liegen auf Inseln im Moor. Es gibt keine markierten Wege dorthin. Ich rate Dir, die Plätze Skantö und Timmerö nur dann aufzusuchen, wenn Du mit lokaler Expertise unterwegs oder sehr erfahren bist mit dem Bewegen in Moorgebieten. Ansonsten bleibe bitte auf den ausgeschilderten Wegen und nutze die anderen fünf wirklich schönen Zeltplätze!
Auch ohne Zelt kannst Du mehrere Tage im Store Mosse Nationalpark verbringen: In den Hostels Södra Svänö und Lövö gibt es insgesamt 40 Betten in acht Zimmern. Die kannst Du direkt auf der Website von Svänö und Lövö buchen.
Zwei Tipps von mir für Dich:
- Auf eine Waffel zu Lena und Sebastian: Seit dem Sommer 2023 betreibt das junge Paar Lena und Sebastian das kleine Café Store Mosse – Coffee and Treats. Das ist im Vogelbeobachtungsturm nahe des Parkplatzes vom Besucherzentrum Naturum beheimatet und mein absoluter Tipp für eine entspannte Pause! Lena und Sebastian sind leidenschaftliche Naturmenschen, Genießer und Künstler. Sie malen, fotografieren, produzieren Waffeltoppings wie Honig und Apfelmus selbst und verwenden für ihre Kreationen nahezu ausschließlich Zutaten in Bioqualität. Angerichtet werden diese so kunstvoll, dass man sie am liebsten nicht zerstören möchte, aber sollte, denn sie sind unfassbar lecker, erst recht, wenn man auf Tour aus der Rucksackküche lebt. Und während man auf seine Waffel wartet, lohnt der Blick durch eines der Leihferngläser hinaus übers Moor …
- Mit André ins Moor: André ist der Herbergsvater von Lövö und Södra Svänö und führt Gäste sicher durchs Moor. Zusammen mit seiner schwedischen Frau Gun sorgt der gebürtige Schweizer mit der unaufgeregt-ruhigen Art für unvergessliche Momente zwischen Sonnentau, Wald und Zimtschneckenpause. Seit 1986 leben die beiden in direkter Nachbarschaft zum Nationalpark. Seit 2023 begleitet André regelmäßig kleine und größere Gruppen auf, wie er sie nennt, Moorschuhen durch Store Mosse.
Ich treffe André zufällig an meinem ersten Abend, noch ehe ich loswandere. Als ich meinen Rucksack schultere und mich verabschiede, ist für ihn klar: „Du kommst ja bald nochmal wieder. Dann gehen wir zusammen raus ins Moor.” André, ich freue mich drauf!
Alle Links und Informationen: Stand Juli 2024.