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Von Porto nach Santiago: Mein „Caminho Português“

Regendurchnässt bis auf die Haut stehe ich vor der Kathedrale. Der unerwartet emotionalste und wetterunfreundlichste aller Pilgertage seit Porto liegt hinter mir. Der Kopf ist leer. Ich weiß nicht, ob ich richtig ankommen oder lieber schnell weiter möchte. Und ich weiß noch nicht, dass es über zwei Jahre dauern wird, bis ich den ersten Text zu meinem „Caminho Português“ veröffentliche.

Elf Tage Pilgern – ohne Erwartung, ohne Fragen

Die Erinnerung an diesen Spätnovembertag ist seitdem kein bisschen verblasst. Ich sehe mich noch immer wenig bewegt vor der Kathedrale stehen und dafür umso genervter das Pilgerbüro suchen: Den (vorerst) letzten Stempel abholen, die Compostela einrollen, meine Rucksackpfütze vor dem Servicetresen verlassen und schließlich die Tür meiner für diese Nacht gebuchten Kemmenate ins Schloss fallen lassen. Elf Gehtage liegen hinter mir.

Elf Tage, in denen ich weder Fragen gestellt noch Antworten gesucht habe, und die doch eine ganze Menge mit mir angestellt haben. Weil Pilgern eben doch irgendwie anders ist als reines Wandern. Weil ich noch immer gleichermaßen dankbar und erstaunt darüber bin, wie aus einer Zufallsbekanntschaft tiefe Freundschaft werden kann. Und weil genau diese Form des Unterwegsseins zu genau jener Zeit das genau Richtige war.

Wandern wollte ich gehen. Einen kurzfristigen Freizeitgewinn für eine zwei- bis dreiwöchige Auszeit nutzen. Gehend, nur das Allernötigste im Rucksack dabei. Möglichst dort, wo’s zwischen November und Dezember noch ein wenig wärmer ist als im nördlichen Europa. Portugal oder Spanien erschien mir eine gute Wahl, der Caminho Português als die ideale, führt er doch durch beide Länder und dazu noch teils an der Küste entlang und teils durchs Landesinnere.

Nebel, Felsen, Regenterror – und mein erster Pilgerstempel

So starte ich an jenem Montag im November von der Kathedrale in Porto aus. Der erste Pilgerstempel ist kaum im ersten Pilgerpass meines Lebens getrocknet, da gehe ich durch die engen Gassen hinunter Richtung Wasser. Am Fluss Douro entlang, raus bis zum Leuchtturm. Ich beobachte die hier laut anklatschenden Wellen. Dann reiße ich mich los, gen Norden. Das Meer zu meiner Linken, die (wie sich später rausstellen wird, viel zu) dicken Wanderstiefel mal im feinen Sand, mal über Holzbohlenwege tragend. Zarte Muscheln an der Wasserkante, hier und da ein freundliches „Bom Caminho“ – ich bin schnell drin in meinem Laufrhythmus, der sich schon früh irgendwie anders anfühlt als sonst.

Liegt das daran, dass Pilgern doch nicht das Gleiche ist wie Wandern? Liegt es daran, dass ich meine Unterkünfte nicht vorgebucht habe, sondern auf die Infrastruktur an Pilgerherbergen setze und darauf, dass auch dieses Stück Freiheit, gepaart mit einer Prise Ungewissheit, zu genau dieser Zeit das genau Richtige ist …? Ich kann es bis heute nicht erklären. Doch ich erinnere das alles, als wäre es gestern gewesen. Denn diese besondere Zeit, sie hat doch etwas mit mir gemacht.

Da ist die Faszination für blank geschliffene Felsen (Man nennt das fachmännisch wohl „Wollsackverwitterung“, wie ich an meinem vierten Pilgertag von einem Geologen erfahre, mit dem ich, was ich zu dem Zeitpunkt nicht weiß, noch mehr als einfach nur ein paar gemeinsame Momente auf diesem Weg teilen werde …), für Nebelstimmung am Morgen und Dankbarkeit, wenn nach galizischem Regenterror mal wieder die Sonne durchlacht. Dieser galizische Regen zum Jahresende – der kann was. Ein Glück, dass es hier und da Bushaltestellen gibt, die mal als Umkleide dienen, wenn es wieder einmal Zeit ist für die volle Regenmontur, und mal als willkommener Pausenplatz mit Dach!

Mein Hadern zwischen alleine und gemeinsam Gehen

Da sind müffelnde Goretexschuhe am Eingang zum Schlafsaal, schnarchende Pärchen und kichernde Damenrunden in den Herbergen. Da sind Nächte, in denen ich mir in unbeheizten Schlafsälen ein bisschen mehr Wärme als nur meinen Sommerschlafsack wünsche. Und solche, in denen mich die Müdigkeit nach einem langen Wandertag auch auf der durchgelegensten Gummimatratze fix in den nötigen Schlaf kommen lässt.

Dachte ich vor meiner kleinen Reise noch darüber nach, alle paar Tage in einer Pension oder einem Hotel unterzukommen, gewinne ich diesem Herbergscharme doch so viel ab, dass ich mich erst in Santiago de Compostela in einem Hostel einmiete. Für eine zweite Nacht nach Ankunft, denn meine Stube unterm Dach von „Monasterio de San Martín Pinario“ ist im Sommerhalbjahr bestimmt eine genauso stilechte wie empfehlenswerte Wahl, doch eine völlig durchgeweichte Ausrüstung kriege ich hier keineswegs getrocknet. Immerhin: Die heiße Dusche tut gut, der schwarze Kaffee im „Café Literarios“ noch viel mehr. Ich muckle mich in eine Ecke, notiere Gedanken in meinem kleinen karierten Büchlein – und freue mich, als wenig später mein Geologen-Pilgerbruder Sven zur Tür reinkommt. Lustig sehe ich wohl aus, denn in meinem Rucksack war nur noch wenig trocken: Sommeroutfit im Winter, ohne Jacke, da auch diese klatschnass ist.

Es sind kleine Momente, die sich einprägen. In denen es um mehr geht als ums Wandern und Unterwegssein. In denen vermeintlich Banales an Bedeutung gewinnt und in denen ich, das kann ich auch zwei Jahre danach nur genau so zugeben, immer wieder mit mir hadere, ob mir Alleinsein oder Gesellschaft lieber ist. Für mich ist’s eine gute Übung, dieses darauf Einlassen, sich wiederzutreffen, zusammen zu essen – und sich noch einmal zu verabreden. Draußen in Muxía. Da, wo sich die Wege dann (erst einmal) trennen werden. Da, wohin mich meine nächsten drei Etappen ab Santiago führen.

Nullstein, Ankunft, Weitergehen – von Santiago nach Muxía

Ein letzter Blick auf die mächtige Kathedrale von Santiago, ein Gedanke an den dann doch emotionalen Moment, als die Pilgermesse beendet ist – ohne, dass ich zu denjenigen gehöre, die sich dabei in den Armen liegen. Ich bin alleine losgezogen, ich werde alleine weiterziehen. Durchs Landesinnere, von Kilometerstein zu Kilometerstein. So weit, bis ich das erste Mal ein Stück Meeresblau sehe. Ein wieder einmal erhabener Augenblick und die erneute Bestätigung, dass mich das Ankommen am Atlantik immer wieder aufs Neue überwältigt.

Ich nehme den Rucksack ab, wickle meinen Schal enger um den Hals, stelle mich in den eisigen Wind – und weiß weder in dem Moment noch jetzt, mit diesem zeitlichen Abstand, was ich denke und fühle. Die Sonne lacht; bald wird sie untergehen. Draußen, an der Kirche Virxe da Barca. Am Nullstein. Da, wo ich am folgenden Tag zu meinen letzten Etappen aufbrechen werde. Nun wirklich alleine, ohne weitere Verabredung. Nur ich, mein bisschen Hab und Gut auf dem Rücken. Die Sonnenbrille auf den müden Augen und einen kleinen Kloß im Hals, weil mit dem Weg nach Süden auch das Ende meines Caminhos bevorsteht.

Ich zögere das Ganze noch etwas hinaus und übernachte vor Ankunft in Fisterra in Lires. Die Amerikanerin, mit der ich mir das Zimmer teile, ist ein wenig zu gesprächig für meinen Geschmack. Jedenfalls an diesem Tag. Einschlafen kann sie überdies nur mit Vogelstimmen aus ihrem Handy. Mir ist’s irgendwann egal; ich bekomme nicht mehr mit, wie lange die Vögel noch zwitschern. Ich bin müde, schlafe, packe wieder zusammen.

Im Café nebenan gibt’s zum kleinen Morgenkaffee ein großes Stück saftigen Kuchen gratis dazu. Ein würdiges Frühstück an einem Tag, der mich daran erinnert, dass es Winter ist und auch Advent: Im Fenster, durch das ich auf mit weißem Frost überzogene Mauern und Blätter gucke, hängen weiße Holzsterne. Ich bin der einzige Gast. Die Café-Familie verabschiedet sich voneinander; der kleine Sohn soll in den Kindergarten, der Papa bleibt da. Freundlich sind sie, alle. Wie immer, wenn ich irgendwo pausiere – und eben auch dann, wenn ich eigentlich gar nicht mehr möchte als einen kleinen Morgenkaffee.

Auch das gehört zu dieser Pilgererfahrung: Man meint es gut mit mir. Manchmal unwissentlich gar zu gut. Denn was macht man, wenn man in einem Gemeindezentrum, in dem man nur mal eben Regenunterschlupf und etwas zu trinken möchte, Suppe mit Innereien serviert bekommt – und genau diese schon seit Kindestagen verabscheut …?

Musik, Gefühl und der richtige Ort – Abschied von meinem Camin(h)o

Fisterra schließlich ist nicht mein Ort. Die Herberge eiskalt. Ein gemütliches Café finde ich nicht. Der Sonnenuntergang draußen am Kap berührt mich weniger als so gut wie jeder auf Paddeltouren auf der Ostsee erlebte. Auch Musik auf die Ohren hilft nicht. Irgendwie will mich dieses so viel geprießene Endziel nicht erreichen. Um mich herum wird angestoßen, gelacht und geweint. Und ich bin froh, als das Tageslicht endlich deutlich weniger wird und ich mich als eine der ersten wieder auf den Weg zurück in den Ort machen kann.

Vielleicht war mein emotionaler Camin(h)o einfach schon früher zu Ende. Irgendwo auf dem Weg zwischen Muxía und Fisterra. Vielleicht war’s mehr ein Prozess als ein Ort, der diese Erfahrung abrunden sollte. In mehreren Akten: Am nächsten Morgen entdecke ich das Café „A Galeria Bibliotaberna“. Urig als Beschreibung wäre maßlos untertrieben. Die Wände voller Reisemitbringsel. Fossilien, Sand, Seekarten, Geldscheine. Fotos, Bücher, Fußballschals. Ich schreite durch den länglichen Gastraum, direkt aufs Fenster zu. Eine Scheibe fehlt. Es zieht etwas kühl rein, während über den Hafen hinweg scheinende Morgensonne die Kühle wettmacht. Ich bestelle einen Kaffee, fange an, in mein Camin(h)o-Büchlein zu schreiben. „All the leaves are brown …“ begleitet meine Gedanken. Der zauberhaft freundliche Barmann serviert mein Frühstück: Weißbrot mit Tomaten, heiß dampfend. Frisch. Lecker. Ich genieße, schreibe, versöhne mich mit Fisterra.

Als der Kopf soweit ist, zu gehen, ertönt: „Com una promesa eres tú, eres tú …“ Nein, noch kann ich nicht gehen. Dieses eine Lied noch. Dann aber! Eine dicke Wolke verdunkelt den Himmel. Ich ziehe meine Jacke über, bezahle. Dabei: „Dust in the wind“. Die Sonne bricht wieder durch. Ich teile den Moment mit meinem Pilgerbruder Sven. Er fragt: „Und welches Lied hält Dich wohl danach vom Gehen ab?“ Der Lautsprecher antwortet zuverlässig und auf den Punkt: „Porque te vas“. Jetzt habe ich endlich Tränen in den Augen. Jetzt ist es Zeit, zu gehen.

Ich verlasse Fisterra über seinen feinen Sandstrand. Ich sammle Jakobsmuscheln in bunten Farben und stopfe sie auf meinen eh schon schweren Rucksack. Dann folge ich den gelben Pfeilen in die „falsche“ Richtung: zurück nach Santiago. Einen halben Tag lang gehe ich noch; einfach so aufzuhören, wäre zu merkwürdig. Cee ist mein Ziel. Die letzte Herbergssuche gestaltet sich schwierig. Dafür wird der Küchenabend umso netter und länger. Mein Abschluss in mehreren Akten ist vollzogen. Nun bin ich bereit, am nächsten Morgen in den Bus zu steigen, der mich zurück nach Santiago bringen soll.

Ein paar Basisinfos zu meinem „Caminho Português“:

Jahreszeit:
Ich bin diesen portugiesischen Jakobsweg im November und Dezember gegangen. Die Farben entlang des Weges waren toll und intensiv, die Temperaturen zumeist angenehm bis gegen Ende auch mal morgens unter null Grad. Ich hatte Sonne und Regen, mitunter in schnellem Wechsel. Ohne Regenjacke, -hose und Rucksackhülle geht da nix. Und doch würde ich jederzeit wieder in diesen Monaten losziehen. Die Herbergen waren nicht überfüllt, im Gegenteil: Manchmal war ich die Einzige, manchmal waren wir lediglich zu zweit oder zu dritt. Wichtig: einen nicht zu dünnen Schlafsack einpacken!

Strecke:
Ich bin an elf Tagen von Porto/Portugal nach Santiago de Compostela/Spanien gegangen. Das waren 297,5 Kilometer. Nach zwei Nächten in Santiago pilgerte ich über Vilaserio und Logoso nach Muxía und von dort, entspannt über Lires, nach Fisterra. Eine letzte halbe Etappe führte mich von Fisterra in den Ort Cee. Insgesamt bin ich 455 Kilometer gegangen.

An- und Abreise:
Ich bin nach Porto geflogen und am Ende von Santiago de Compostela aus mit dem Bus zurück nach Porto gefahren. Das klappte prima und ich gönnte mir zum Abschluss noch ein paar Nächte in Porto, ehe ich von dort zurückflog.

Unterkunft:
Ich habe meine erste Nacht in einem Hostel in Porto vorgebucht und ab da ausschließlich in öffentlichen Pilgerherbergen geschlafen. Zwar wollte ich ursprünglich alle paar Nächte mal in eine Pension oder ein Hostel, doch die Infrastruktur an Herbergen und die Einfachheit samt Freiheit, sich je nach eigenem Befinden hinsichtlich der Etappenlänge nur an der Entscheidung für die nächste oder übernächste Herberge zu orientieren, gefiel mir gut.
Ein Bett, eine Dusche, mal minimalistischere, mal üppigere Küchenausstattung, dazu auch mal eine Waschmaschine – für mich war das vollkommen ausreichend. Nur: Im Winterhalbjahr kann’s ohne Heizung in Schlafsälen mit Steinwänden eben schon mal frisch werden … Deshalb der Tipp für den wärmeren Schlafsack, vielleicht noch ein Inlay und – ich wandere niemals ohne – ein langärmliges Merino-Shirt!

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