Stille hat viele Facetten. Stille kann beruhigen und beängstigen, verbinden oder unangenehm sein. Jeder dieser Effekte ist stark von der jeweiligen Situation geprägt, sodass Stille eben nicht gleich Stille ist. Mir fällt auf, wie oft ich in meinen Texten stille Momente in der Natur erwähne. Solche, in denen das lauteste Geräusch um mich herum das sachte Abfallen von Blättern einer schon fast kahlen knorrigen Birke neben meinem Zelt ist. Und solche, in denen Stille die Übergänge zwischen unterschiedlichen Phasen des Tages markiert. Warum hat Stille im Draußen eine so intensive Wirkung auf mich?

Stille und Wahrnehmung
Stille hat viele Facetten. Menschen, die das städtische Umfeld gewohnt sind, haben es in der Stille der Natur manchmal schwer. Ich erinnere eine ehemalige Freundin, der es an meinem Wohnort auf dem Lande zu ruhig und zu dunkel war. Sie fand nicht in den Schlaf. Ich schlafe im Draußen besser als nirgendwo sonst. Nur durch meine zwei Zelthüllen von meiner Umgebung getrennt. Mit viel frischer Luft und der knarzenden Liegematte unter mir.
Die Aufgaben meiner Sinne sind hier draußen andere als in einem (vermeintlich) geschützten Haus. Mein Bauch gibt mir Orientierung darüber, ob sich ein ausgewählter Schlafplatz gut anfühlt. Meine Ohren nehmen neue Geräusche auf und lösen im Hirn Signale aus, sollten sie etwas Ungewöhnliches wahrnehmen. Etwas, das wohltuende Stille auf irritierende Art durchschneidet, oder etwas, das mir vielleicht auch mitteilt: „Es ist alles okay.“
Dass ich die stillen Momente so häufig beschreibe, mag damit zu tun haben, dass ich sie sehr genieße. Es sind Momente, in denen ich noch intensiver erlebe und spüre, und in denen das Fokusfeld meiner eigenen Aufnahme mal auf Panorama und mal auf einen minikleinen Spot scharfstellt. Ohne Druck, Erwartung, Plan sitze ich da, sehe mich um, staune und komme zur Ruhe. Dieses Gefühl habe ich nur im Draußen und nur dann, wenn ich ganz für mich bin. Und bei mir.

Stille, Bewegung und Pause
Dann hat Stille eine entspannende Wirkung. Sie lässt mich wahrnehmen, wenn sich die Zeiger der Vogeluhr an einem frühen Sommertag ein Stück weiterbewegen. Sie lässt mich tiefes Glück empfinden, wenn ich auf einem weiten Plateau im schwedischen Fjäll die einzige Zuschauerin bin, die beobachtet, wie sich der Morgendunst langsam hebt, das Licht über den Bergkämmen wärmer und wärmer wird und sich schließlich der Sonnenball zeigt. Für diese Stille gibt es keine Worte.
Auch im Draußen hat Stille viele Facetten. Die Stille an einem Solo-Abend in einer Hütte klingt anders als die vor einem aufziehenden Gewitter. Sonnentagstille klingt anders als Nebeltagstille. Und wieder anders ist Stille im Winter. Mit frisch gefallenem Schnee, der den Lautstärkeregler noch ein Stück weiter runterdreht. Solange, bis eine satte Windböe durch die Schneise im Wald fegt. Auch dann ist’s immer noch vergleichsweise still in der Natur, nur eben anders.
Mir tun all diese Arten der Stille gut. Sie sind meine Kompassnadel für Entscheidungen und meine Energieladestation für die lauten Tage. Stille, Bewegung und Pause beruhigen mein Nervensystem. Unbeschreibliche Kulissen im Großen wie im Kleinen tun Kopf und Seele gut. Egal, ob auf Langtour, auf der kurzen täglichen Runde oder an einem frühen Morgen auf dem heimischen Balkon. Dann, wenn Zilpzalp, Dorngrasmücke und Buchfink ihre Stimmen zum Konzert erheben und ich zum Beginn eines neuen Tages tief durchatme.